
Quelle: Markus Nowak
Was bedeutet „Menschenwürde" für Frauen, Männer und Kinder, die am Rande der Gesellschaft leben? Ana Nedelea und Markus Nowak (Text und Fotos) haben in Rumänien Menschen kennengelernt, die es schwer haben im Leben - und erfahren, dass es manchmal gar nicht viel braucht, um Wertschätzung zu erleben.
Eine Reportage von Ana Nedelea (Text) und Markus Nowak (Text und Fotos)
Jeden Morgen fährt Anikó Deàk Haan eine Schotterpiste entlang, wie sie häufig Dörfer in Siebenbürgen verbindet. Während sich ihr Wagen durch die Schlaglöcher kämpft, kommen ihr immer wieder Pferdefuhrwerke entgegen. Viele der Häuser hier in Peteni, rund eine Autostunde entfernt von Brașov (Kronstadt) sind aus Holz gebaut und schon halb heruntergekommen. Die Bewohner leben oft in Armut und sind auf Transferleistungen angewiesen. Ein Großteil der 200 Dorfbewohner sind Roma.
In der Schule des Ortes arbeitet Anikó Deàk: Sie ist Lehrerin und mag ihre Arbeit. „Ich würde nicht mehr weggehen“, sagt sie – und die Kinder würden sie auch nicht gehen lassen. „Sie sagen, wenn ich nicht da bin, kommen sie nicht zu zur Schule.“ Aber es ist nicht nur ihre Lehrerin, die die Mädchen und Jungen begeistert: Die Schule bietet etwas Besonders an, nämlich Essen. Die 48-Jährige erzählt, wie ein Schultag beginnt: „Wir waschen uns zuerst die Hände, und dann gibt es Frühstück.“ Und danach kann die erste Stunde beginnen, mit 20 Kindern von der ersten bis zur vierten Klasse, alle Jahrgänge zusammen in einem Raum. Mehr als vier Schulklassen besuchen die meisten Kinder der Roma-Familien nicht, sagt Deàk.
Viele bekommen schon als junge Teenager eigene Kinder, beobachtet die Lehrerin, die 13 von ihren 30 Jahren Unterrichtserfahrung in der „Roma-Schule“ von Peteni gesammelt hat. Sie muss den Kindern in wenigen Jahren eine Grundlage in Lesen, Schreiben und Rechnen fürs Leben mitgeben. „Es geht aber nicht nur um Wissen“, erklärt sie. Sie möchte, dass die Kinder auch spüren, dass sie etwas wert sind. Bildung ist ein Weg, ihnen ihre Würde zurückzugeben, besonders wenn sie als Roma außerhalb der Schule auf Vorurteile stoßen. Noch immer erleben viele Roma-Familien häufig von Hass motivierte Belästigungen und Ausgrenzung.
Hohe Schulabbrecherquote
Einem Bericht der EU-Kommission aus dem Jahr 2023 zufolge ist die Schulabbrecherquote von Roma-Schülern in Rumänien mit 70 Prozent signifikant höher als der landesweite Durchschnitt (9,7 Prozent).
Auch die 22-Jährige Gergely Zita besuchte nur vier Jahre die Schule in Peteni, auf die nun der älteste ihrer beiden Söhne geht. Sie ist froh, dass ihre Kinder zusätzlich von der Caritas unterstützt werden, etwa durch Freizeitaktivitäten und Sommercamps. Die katholische Organisation spielt eine wichtige Rolle bei der Begleitung von Roma-Familien in der Region. „Wir arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, um sie zu stärken und ihnen eine Perspektive zu geben“, erklärt Kinga Hubbes, Koordinatorin der Caritas in Târgu Secuiesc, deren Arbeit Renovabis seit vielen Jahren unterstützt. Es gehe darum, sie als Teil der Gesellschaft zu sehen und ihnen dabei zu helfen, dies auch selbst zu spüren, sagt die 49-Jährige.
Besonders die Mädchen brauchen Perspektiven
Wie wichtig es ist, Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen zu fördern, weiß Kunigunda Szabó, Sozialpädagogin im Caritas-Kinderzentrum Ciucului in Sfântu Gheorghe. Inmitten einer grauen Plattenbausiedlung bietet das Zentrum den Kindern einen Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Die Kinder, die hier betreut werden, stammen aus verschiedenen ethnischen Gruppen – Roma, Rumänen und Ungarn – und wachsen oft in prekären Verhältnissen auf. Armut, Perspektivlosigkeit und ein Mangel an Unterstützung prägen viele Familien. Häusliche Gewalt ist in diesem Umfeld keine Seltenheit. „Die Kinder wissen, dass unsere Tür immer offen ist“, sagt die 37-Jährige, die seit der Gründung des Zentrums mitarbeitet. Neben außerschulischen Aktivitäten lernen die Kinder hier, Konflikte friedlich zu lösen und auf Gewalt zu verzichten. Szabó betont, wie wichtig es ist, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken, besonders bei Mädchen.
„Ich wünsche mir, dass sozial benachteiligte Kinder mit der Zeit verstehen, dass sie nicht weniger wert sind als die Kinder, die in der Stadtmitte leben“, sagt sie. Besonders für die Mädchen möchte Kunigunda Szabó Perspektiven schaffen, die ihnen bewusst machen, dass sie in der Lage sind, ihr Leben selbst zu gestalten. Sie sollen die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, welchen Weg sie im Leben einschlagen – ob sie sich für ein Leben als Mutter und Hausfrau, für eine berufliche Karriere oder für beides entscheiden.
Menschenwürde bedeutet auch, überhaupt gesehen zu werden und nicht in Vergessenheit zu geraten. Neben der Roma-Minderheit zählen ältere Menschen zu den am meisten marginalisierten Gruppen in Rumänien. Die Gründe dafür liegen unter anderem in der weit verbreiteten Arbeitsmigration: Hunderttausende, oft jüngere Rumänen haben in den vergangenen Jahrzehnten das Land verlassen, um in Westeuropa Arbeit zu finden. Zurück bleiben die Alten – oft ohne familiäre Unterstützung. Dazu kommt, dass das soziale Sicherungssystem in Rumänien auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus sehr grobmaschig ist. So gibt es nur wenige Altersheime und die häusliche Altenpflege steckt noch in den Kinderschuhen.
Erika Antal kennt diese Realität nur zu gut. Die 42-Jährige ist als ambulante Krankenpflegerin für die Caritas in der häuslichen Krankenpflege in der ländlichen Region um Miercurea Ciuc, rund fünf Autostunden von der Hauptstadt Bukarest entfernt, tätig. „Es gibt Orte und Häuser, wo niemand sonst hingeht, um sich um die älteren Menschen zu kümmern. Niemand bringt den Menschen eine warme Suppe, keiner übertritt die Türschwelle“, sagt sie. „Außer ich komme.“
Erika Antal erzählt von Tátar Rosalia. Die 78-Jährigelebt in einem kleinen Dorf und leidet seit über 30 Jahren an Diabetes. Vor vier Jahren wurden beide Beine amputiert, seitdem fällt ihr der Alltag sehr schwer. Von den vier Kindern lebt nur eine Tochter in der Nähe und hilft ihr. Deshalb ist sie dringend auf die Unterstützung der Caritas angewiesen, die auch mehrmals in der Woche eine warme Mahlzeit liefert.
Die Arbeit von Erika Antal zeigt eindrücklich, dass die ambulante Pflege durch die Caritas nicht nur auf die medizinische und praktische Unterstützung abzielt, sondern auch auf die Würde der alten, oft vergessenen Menschen. Die Pflegerin weiß, dass ihre Besuche den Patienten das Gefühl geben, nicht vergessen zu sein. Für viele sei das fast wichtiger als die rein medizinische Versorgung. Sie hört den Menschen zu, spricht mit ihnen und schenkt ihnen Momente des Mitgefühls und der Aufmerksamkeit.
Weniger Mitgefühl, dafür mehr Teilhabe und „Normalität“ wünscht sich dagegen Loránt Péter. Der 30-Jährige faltet konzentriert Bettwäsche im Casa Jakab Antal, einem Bildungs- und Pilgerheim der Caritas in Miercurea Ciuc. „Lori“, wie Loránt liebevoll von seinen Kollegen genannt wird, arbeitet hier in der Wäscherei – halbtags, mehr lassen seine Behinderungen nicht zu. Lori wurde mit einem Hüftproblem geboren, hat zudem ein verkürztes Bein. Im Kinderheim aufgewachsen, erlebte er später viel Diskriminierung und sogar Obdachlosigkeit. Auch Demütigungen, wie angespuckt zu werden, gehörten dazu.
Zwischen Waschmaschinen und dampfender Wäsche hat Lori seinen Platz gefunden, integriert durch eine feste Arbeit, die seinen Möglichkeiten gerecht wird. „Hier werde ich akzeptiert, so wie ich bin“, sagt er. Die Arbeit tue ihm gut, gerade auch, weil sie ihm eine Tagesroutine gebe. Seine Pläne gehen über die Wäscherei hinaus: Gern würde er im Restaurant des katholischen Bildungshauses kellnern. „Ich finde es wichtig, dass die Gäste sehen, dass auch Menschen mit Behinderungen ‚normal‘ arbeiten können.“ Mit seiner Geschichte zeigt Lori, dass Menschenwürde nicht nur ein abstrakter Begriff ist. Es bedeutet, gesehen zu werden, unabhängig von den Herausforderungen des Lebens. Und manchmal braucht es dazu nur eine Schultasche, eine warme Suppe und ein aufmunterndes, wertschätzendes Gespräch am Arbeitsplatz…
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