Eine Roma-Frau mit einem geblümten Kopftuch sitzt mit ihrer Familie in einer provisorischen Behausung am Stadtrand von Sofia. In der MItte der Familie sitzt die Sozialarbeiterin Marya Mitreva, die regelmäßig vorbeikommt, um Ivanka und ihre Kinder zu unterstützen und zu begleiten.
Sozialarbeiterin Marya Mitreva (Mitte) besucht regelmäßig Familien wie die von Ivanka (links), die in provisorischen Behausungen in Sofia leben - aufsuchende Sozialarbeit mit Hilfe von Renovabis.
Quelle: Achim Pohl
22.04.2025 – Reportage

Von der Straße auf die Schulbank

Mitten in Europa gibt es Länder, in denen Menschen um ihre Grundrechte kämpfen müssen. Ihr Staat hilft wenig, gießt oft sogar noch Öl ins Feuer. Ira Peter (Text) und Achim Pohl (Fotos) berichten aus dem Kosovo und aus Bulgarien.

Mitten in Europa gibt es Länder, in denen Menschen um ihre Grundrechte kämpfen müssen. Ihr Staat hilft wenig, gießt oft sogar noch Öl ins Feuer. Dass die Menschen im Kosovo und in Bulgarien Hoffnung auf ein Leben in Würde schöpfen, ermöglichen örtliche Organisationen wie der „Concordia e.V." Renovabis unterstützt diese Arbeit vor Ort.

Eine Reportage von Ira Peter (Text) und Achim Pohl (Fotos)

Es riecht nach verbranntem Holz vor dem „Ali Ibra“ Concordia-Tageszentrum in Gjakova, einer Stadt im Kosovo, die im Krieg 1999 fast vollständig zerstört wurde. Ein paar Männer lehnen an dem Metallzaun, der das einstöckige Gebäude mit seinem gepflegten Rasen gegen ein Meer aus Plastikmüll, kaputten Möbeln und zerschlissenen Autoreifen schützt. Zwei Mädchen laufen vorbei. Sie tragen keine Schuhe, obwohl kalter Herbstregen die löchrigen Straßen der Siedlung in kleine Seen verwandelt hat. Etwa 200 Familien leben hier, die meisten sind Roma, Aschkali oder Balkan-Ägypter. Bis vor ein paar Monaten wusste die Stadtverwaltung wenig über sie. Erst die von Renovabis unterstützte Hilfsorganisation Concordia gab den Menschen Namen.

Edona Lipoveci, die Leiterin des Zentrums, und ihre Kollegen waren von Haus zu Haus gelaufen, hatten die Namen der Bewohner notiert, dazu das Alter, das Geschlecht und vor allem die Anzahl der schulpflichtigen Kinder. „Die Stadtverwaltung war verblüfft, dass es 500 Mädchen und Jungen sind“, sagt Edona. Kaum eins der Kinder hatte je eine Schule von innen gesehen. Dabei herrscht in Kosovo Schulpflicht. Daraufhin schickte die Stadt zwei Lehrkräfte, die die Schülerinnen und Schüler nun bei den Hausaufgaben im Concordia-Tageszentrum unterstützen. Außerdem bekommen hier rund 100 Kinder warmes Essen und bei Bedarf Sprach- und Psychotherapie. Edona und ihr Team sind nach einem Dreivierteljahr noch immer dabei, Geburtsurkunden für die Familien zu besorgen, Kinder impfen zu lassen und sie in Schulen anzumelden.

Kinder im Ali-Ibra-Zentrum in Gjakova

Ein kleiner Junge mit dunklen, glänzenden Haaren und einer großen dunklen Brille lächelt mit großen dunklen Augen etwas zaghaft in die Kamera des Fotografen.
Das Bild zeigt ein etwa zehnjähriges Mädchen im rot-weißen Sweat-Shirt und mit strahlend grünen Augen, das an einem weißen Tisch sitzt.
Das Bild zeigt ein kleines Mädchen beim Spielen im Kindergarten des Ali-Ibra-Zentrums in Gjakove. Es trägt ein T-Shirt mit einem Glitzerstern, zwei funkelnde Ohrringe und freut sich sichtlich, mit anderen Kindern spielen zu können.

Lesen und schreiben lernen in Gjakova

Concordia ist die erste Organisation in Gjakova, die Bildungsziele mit sozialer Arbeit verbindet. Regelmäßig besuchen die Mitarbeitenden deshalb Menschen auch zu Hause. Heute schaut Psychologin Blerta Koca bei Esma vorbei. Die Romnja ist 38, wirkt aber wie 50. Vor ihrem Haus kocht in einer kleinen Blechtonne gerade Wasser über brennenden Ästen. Esma will Kleidung waschen - und Strom können sie sich nicht leisten. Ihr Mann geht betteln, sie und die acht Kinder haben das früher auch gemacht. „Jetzt sollen sie besser zur Schule gehen“, sagt Esma. Auch sie lerne jetzt lesen und schreiben, erzählt sie. Schüchtern schaut ihre 16-jährige Schwiegertochter aus dem Nebenzimmer, auf dem Arm ihr Neugeborenes. Wie es der Brauch will, ist sie zur Familie ihres Mannes gezogen.

Oft leben bis zu 20 Menschen in den winzigen Häusern, welche die Caritas vor einigen Jahren bauen ließ. Blerta hofft, dass eine bessere Bildung in der Siedlung bald dazu führen wird, dass Menschen später heiraten und sich nachhaltiger auf Erwerbsarbeit einlassen. Das zeige zumindest die Arbeit in Prizren, einer anderen kosovarischen Stadt, wo Concordia bereits seit vier Jahren tätig ist. Manche Kinder studieren heute bereits und vielen Eltern verdienen ihr Geld in festen Anstellungen.

Blerta sagt: „Wir betrachten die Menschen als eigenständige Persönlichkeiten, die unsere Starthilfe brauchen.“ Trotzdem fühle sie sich oft schuldig: „400 der Kinder hier können wir nicht unterstützen.“ Es fehle Raum und Personal.

Zurück am Zentrum, spricht Edona gerade mit einem der Männer am Zaun. Bei der Eröffnung des Zentrums im Juni 2024 hatte er Flaschen gegen das Gebäude geworfen. „Er dachte, wir sind eine Organisation, die schnell wieder verschwindet.“ Jetzt habe er gemerkt, dass Concordia seine Versprechen hält – und sich entschuldigt.

Das Gebäude des Ali-Ibra-Zentrums in Gjakova: ein schlichter weißer Zweckbau, eingeschossig, mit neuen Fenstern, das Gebäude und der Garten sind sehr gepflegt, doch außerhalb des Zaunes ist Müll und Unrat wie ein kaputter Regenschirm zu sehen.
Das Ali-Ibra-Zentrum in Gjakova
Quelle: Achim Pohl
Rund ein Dutzend Frau treffen sich im Concordia-Zentrum in Gjakova. Sie sehen um einen Tisch mit Papier und Stiften herum und halten jeweils eine gefüllte Wasserflasche mit ausgestreckten Armen vor sich - eine Entspannungsübung.
Im Concordiazentrum in Gjakova lernen Frauen, wie sie Stress im Alltag regulieren können und sich besser um sich selbst sorgen können. Die eigene Gesundheit gerät in ihrem Alltag mit den vielen Sorgen oft außer Acht.
Quelle: Achim Pohl
Eine Betreuerin und drei Kinder - zwei Mädchen und ein Junge - während des Nachhilfe-Unterrichts: Auf einer geblümten Tischdecke liegen aufgeschlagene Hefte, die Kinder halten Stifte in der Hand und schreiben gerade sehr konzentriert.
Im „Ali Ibra“-Tageszentrum bekommen die Kinder Unterricht – auch die, denen Lernen lange fremd war.
Quelle: Achim Pohl

Ein Roma-Viertel in Sofia

Ortswechsel nach Sofia, Bulgariens Hauptstadt. Zwei Drittel der in Armut lebenden Menschen hier gehören zur Roma-Gemeinschaft, obwohl sie nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie wohnen oft in ghettoartigen Vierteln.

Mit Marya Mitreva, Sozialarbeiterin bei Concordia, besuchen wir heute eines dieser Viertel. Nach einer kurzen Autofahrt laufen wir mit ihr eine schlammige Straße entlang, vorbei an improvisierten Hütten, um uns etliche Kinder, manche in schmutzigen Bademänteln, viele sehr dünn. Ein Mädchen isst trockene Instantnudeln aus einer Packung, ein ausgemergelter Hund folgt ihr. Vor einem Haus ist ein Schwein angebunden, ein Pferdewagen zieht vorbei.

Überall auf der Straße liegt Müll. Kaum zu glauben, dass man hier mitten in einer europäischen Hauptstadt ist. „Die Müllabfuhr kommt nicht hierher“, beantwortet Marya unseren ungläubigen Blick. Anschluss an die Kanalisation gebe es ebenfalls nicht, deshalb kommen einige Bewohnerinnen und Bewohner zum Duschen in eines der vier Sozialzentren von Concordia.

Erste Schritte in eine bessere Zukunft

Viele im Viertel haben bis 2023 in Häusern gelebt; die Stadt ließ sie aber abreißen, weil Baugenehmigungen fehlten. Seitdem seien Menschen wie Ivanka, mit der sich Marya gerade unterhält, ohne Adresse. Kürzlich habe sie ihr dabei geholfen, ihre Kinder im Kindergarten anzumelden. Das ginge nur online und ohne Adresse eigentlich gar nicht. Ivanka habe aber weder Strom noch ein Handy – und vor allem könne sie nicht lesen, sagt Marya. Auch der Zugang zu Sozialhilfe und öffentlicher Gesundheitsversorgung sei für Ivanka und ihre Kinder gekappt, seit sie offiziell keine Bürger mehr sind. Gegen dieses landesweite Problem setzt sich Concordia mit anderen NGOs in Bulgarien ein. „Unsere Behörden arbeiten aber langsam“, sagt Marya. Die politische Situation sei „dynamisch“, allein seit 2021 hat Bulgarien fünf Parlamentswahlen abgehalten. Konstant sei nur die jahrhundertelange Diskriminierung der Roma: Politiker jeglicher Parteien gingen mit antiziganistischen Aussagen auf Stimmenfang oder schürten Angst innerhalb der Community. Die Sozialarbeiterin: „Wir begleiten Menschen bei den ersten Schritten, damit sie die Angst vor dem Versagen verlieren.“ Und damit die Menschen Hoffnung haben auf ein selbstbestimmtes, würdevolles Leben innerhalb der Gesellschaft.

Ein Haus in der Roma-Siedlung in Malki Iskar. Die Ziegel sind unverputzt, das Haus wirkt windschief, es sind viele Stützpfeiler aus Holz und Metall zu sehen. Davor liegen neue Ziegelsteine, aber auch sehr viel Müll.
Die Roma-Siedlung in Malki Iskar
Quelle: Achim Pohl
Eine junge Roma-Frau mit ihrem kranken, schlafenden Kleinkind wird in der Krankensprechstunde im Concordia-Zentrum in Malki Iskar von einer Mitarbeiterin betreut. Die Mitarbeiterin hält ein Fieberthermometer in der Hand.
Die Ärztin im Concordia-Zentrum ist meist die erste Anlaufstelle, wenn Kinder krank werden. Eine andere ärztliche Versorgung gibt es vor Ort nicht.
Quelle: Achim Pohl
Ein kleiner Junge im blauen Sweat-Shirt bekommt Nachhilfeunterricht im Concordia-Zentrum in Malki Iskar: vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Malbuch, er hält mit beiden Händen einen türkisfarbenen Filzstift hoch.
Nachhilfeunterricht in Malki Iskar
Quelle: Achim Pohl
Zwei sehr junge Roma-Frauen laufen mit ihren Kleinkindern auf dem Arm durch die Roma-Siedlung in Malki Iskar. Beide Frauen tragen dunkle T-Shirts und darüber Strickjacken, eines der Kleinkinder hat keine Söckchen an.
Mütter mit ihren Kindern in der Roma-Siedlung in Sofia
Quelle: Achim Pohl
Inhalt erstellt: 22.04.2025, zuletzt geändert: 22.04.2025

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