Eine Reportage von Markus Nowak vom Herbst 2021
Jeden Mittag bildet sich auf dem Vorplatz der Heilig-Pokrowski-Kathedrale im ukrainischen Ivano-Frankivsk eine kleine Menschentraube. Dann endlich öffnet sich im Ladenlokal der Caritas-Suppenküche ein Fenster, die Gruppe beginnt, sich in eine Schlange einzureihen und ans Fenster zu treten. Vor der Corona-Pandemie öffnete sich noch die Tür in den Speiseraum und rund 160 hungrige Menschen wurden zur Mittagszeit versorgt. Derzeit wird das Essen in Lunchboxen über das Fenster ausgegeben – und es sind inzwischen bis zu 300 Portionen täglich, berichtet Roman Darmograj, der Leiter der Einrichtung.
Kartoffeln, Rotkraut, manchmal ein Stück Fleisch oder Fisch und etwas Brot – das Menü soll in erster Linie nahrhaft sein. „Wenn wir hungrige Menschen ernähren, erfüllen wir das Gebot der Barmherzigkeit“, sagt Darmograj. Er ist griechisch-katholischer Priester ist, doch welcher Religion die Bedürftigen angehören, ist egal. „Wir helfen allen, die unsere Hilfe brauchen. Manche sagen mir, sie glauben nicht an Gott. Aber das macht sie nicht weniger hungrig.“
Es gibt viele Menschen in der Ukraine, die Tag für Tag hungern – wie viele, lässt sich nur schwer schätzen. Einen Richtwert über die Armut im Land geben allerdings andere Indikatoren, wie etwa die Obdachlosigkeit: Fast 734 240 Menschen in der Ukraine sollen 2020 nach Daten der Organisation IDMC (eine internationale Nicht-Regierungsorganisation, die Analysen zu den Binnenvertriebenen der Welt bereitstellt) ohne ein Dach über dem Kopf gewesen sein – bei einer Bevölkerung von 44 Millionen. Zum Vergleich: Deutschland, dessen Einwohnerzahl fast doppelt so groß ist, hatte 2018 rund 237 000 Obdachlose.
Engagement für die Menschen
An einer Ausfallstraße mehrere Autominuten vom Stadtzentrum von Ivano-Frankivsk steht neben einem größeren Wohnhaus eine Garage, auf deren Dach ein Wintergarten gebaut wurde. Hier oben wachsen im Sommer Tomaten und Gurken, im Winter gedeihen Zierpflanzen. Angebaut werden sie von Menschen mit geistigen Behinderungen, die in der Caritas-Tageseinrichtung im Nebengebäude betreut und gefördert werden. „Die Idee mit dem Glashaus haben wir uns bei Projektpartnern in Trier abgeschaut“, erzählt Natalia Kozakevich, die Direktorin der Caritas in Ivano-Frankivsk. Das sei eine ganz besondere Art von Integrationsprogramm, berichtetet sie: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erlernen im Umgang mit den Pflanzen viele neue Fähigkeiten und Fertigkeiten – und am Ende kann das reife Gemüse sogar verkauft werden.
Die Caritas schafft aber noch viele weitere Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen: Nebenan gibt es etwa eine Näherei. Zwar deckt der Erlös aus den Aufträgen und Verkäufen nicht alle Kosten, aber „es zeigt den Menschen, dass sie von der Gesellschaft gebraucht werden“, weiß Kozakevich. Eine wichtige Erfahrung, gerade in der Ukraine - wurden doch in der Sowjetzeit Menschen mit Behinderungen quasi weggesperrt. Erst die Unabhängigkeit des Landes 1991 brachte Veränderungen: Die im Kommunismus verbotene griechisch-katholische Kirche durfte wieder tätig werden – und mit der Religionsfreiheit kam auch das soziale Engagement.
Die Caritas startete ihr Rehabilitationszentrum 2008 und setzt sich seitdem für Menschen mit Behinderungen ein. „Mit sogenannten „Leuchtturmprojekten“ wollen wir zeigen, dass die Kirche ihre soziale Verantwortung übernimmt“, sagt Bogdan Tachynskyi. Der 30-jährige Priester arbeitet in der Finanzabteilung der Kurie der Erzeparchie Ivano-Frankivsk, wie die Diözesen bei den Ostkirchen genannt werden. Die Planungen vieler Projekte, die Benachteiligte und sozial Schwache unterstützen, gehen über seinen Schreibtisch. „Die Kirche muss etwas tun, damit die Menschen nicht allein gelassen werden“, sagt er. Das fordere auch den Staat heraus, in vernachlässigte Bereiche zu investieren - und davon gibt es in dem Land zwischen Karpaten und Schwarzem Meer viele, etwa im Bereich der Bildung oder der Gesundheitsversorgung. Hier springt die katholische Kirche ein und wirkt in und für die Gesellschaft. Und das, obwohl die Gläubigen der griechisch-katholische Kirche gerade einmal neun Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, die Anhänger der römisch-katholische Kirche sogar nur rund ein Prozent.
„Ein Priester sollte nicht nur in der Kirche bleiben“
Im Westen des Landes hat die katholische Kirche eine wichtigere Stellung als in anderen Bereichen des Landes. Eines der „Leuchtturmprojekte“, von denen Bogdan Tachynskyi spricht, liegt hier, im Stadtzentrum von Ivano-Frankivsk. Das langgezogene, sieben Geschosse hohe Gebäude an der Ecke der Harbarska- mit der Vasyliyanok-Straße ist ein katholischer „Hotspot“ in der Karpatenstadt: Die Kurie, das Priesterseminar und die medizinische Ambulanz „St. Lukas“ sind schon bisher hier untergebracht. Derzeit werden zwei der Geschosse saniert, umgebaut und zu einem vollwertigen Krankenhaus ausgebaut. „Damit sind dann auch Operationen möglich“, freut sich die Chefärztin der Ambulanz, Valentuna Kazmiruk. Mit Stolz berichtet sie von etwa 20 000 Patienten pro Jahr, die die die Ambulanz ansteuern. Bei einem Rundgang zeigt sie neueste medizinische Instrumente, die allerdings oft nur mit deutschen Spendengeldern gekauft werden konnten. Diese gute Ausstattung sei ein Grund für die gute Auslastung der Ambulanz, die Patienten kämen aber auch, „weil wir eine kirchliche Einrichtung sind und sie uns vertrauen.“
Das Vertrauen wächst
Tatsächlich wächst in der Ukraine nicht nur im medizinischen Bereich das Vertrauen in die Kirche. Laut einer im Januar 2022 in Kiew/Kyiv vorgestellten Studie des Meinungsforschungsinstituts Rasumkow-Zentrum vertrauen fast zwei Drittel der Erwachsenen „der Kirche“. Der genaue Prozentsatz liegt bei 63,5 Prozent, zwischen den Konfessionen wurde dabei nicht unterschieden. Verdient hat sich die katholische Kirche in der Ukraine dieses Vertrauen auch mit ihrem sozialen Engagement für die Gesellschaft. Roman Darmograj von der Caritas-Suppenküche auf dem Vorplatz der Heilig-Pokrowski-Kathedrale lebt diese Kombination aus Spiritualität und sozialem Engagement eindrucksvoll vor: „Spirituelle Nahrung“ gibt es in der Kathedrale gegenüber, bei ihm in der Suppenküche kommt physische Nahrung auf den Tisch.