Eine Reportage von Peter Beyer
Es grollt, es rumpelt, es rattert. Eine gigantische Staubwolke wabert in der Luft. „Die Kohle ist hier in Nordböhmen Fluch und Segen zugleich“, sagt Pfarrer Philipp Irmer, während er dicht vor der Abbruchkante des Tagebaugebiets am Ortsrand seiner Gemeinde Mariánské Radčice steht. „Zigtausende Familieneinkommen hängen von Kohleförderung und Raffinerien ab. Zugleich greifen die riesigen Bagger massiv in die Landschaft ein“, fügt er hinzu. Bis 1991 war sogar geplant, die ganze Ortschaft samt ihrer Wallfahrtsstätte wegzubaggern. Erst ein Förderlimit verhinderte das Auslöschen des Dorfes.
Große Aufgaben an neuer Wirkungsstätte
Nach seiner Ankunft 2003 zog der Westfale zunächst nach Osek, sieben Kilometer vom jetzigen Wohn- und Wirkungsort entfernt. Im dortigen Kloster arbeitete er in der Küche und lernte dabei, sich auch auf Tschechisch zu verständigen. Intensiver lernte er die Sprache – als Mann des Wortes wollte Irmer Gespräche und Predigten rasch auf Tschechisch halten –, als er im Gymnasium der nahegelegenen Stadt Krupka Deutsch unterrichtete. Zugleich überwachte er Sanierung und Restaurierung der jahrzehntelang brachliegenden Wallfahrtskirche und des halb verfallenen Pfarrhauses in Mariánské Radčice. 2004 konnte der Pfarrer dort einziehen. Aktuell liegen Irmer und seinem Vikar Christopher Cantzen der weitere Ausbau des Pfarrhauses zur internationalen Begegnungsstätte am Herzen. Junge Menschen aus aller Welt sollen mit ihrem Elan der geschundenen Region neues Leben verleihen. Tatsächlich reisten in all den Jahren Freiwillige aus aller Welt an, um bei den aufwendigen Renovierungsarbeiten Hand anzulegen – bis zum Corona-Lockdown. Immerhin können bereits 60 Übernachtungsgäste beherbergt und versorgt werden.
Doch Irmer hat noch weit Größeres vor, will die einst blühende katholische Gemeinde wiederaufbauen. Im christlichen Niemandsland eine Mammutaufgabe: In seiner nordböhmischen Wahlheimat bekennt sich gerade einmal jeder Zehnte zum Glauben, und selbst unter diesen sind Kirchgänger rar. Doch Herumjammern ist dem hemdsärmeligen Gottesmann fremd, der neben elf Kirchen auch für das geschichtsträchtige Kloster Osek verantwortlich ist.
Mann des Wortes, Mann der Taten
Nach der Neubesiedlung ab 1945 fehlt vielen Menschen hier bis heute ein Heimatgefühl, und Perspektivlosigkeit herrscht vor. Auch deswegen hat sich Irmer im „Land der Atheisten“ mehr Miteinander, mehr Zusammenhalt in seinem Wirkungskreis auf die Fahnen geschrieben. Sein Ansatz ist Begegnung. Er lädt Mitmenschen, ob gläubig oder nicht, zu Konzerten, Festen und Veranstaltungen in den Kirchhof. Irmers unkonventionelle Art kommt an, seine unverblümte, direkte Sprache bringt ihn ins Gespräch. Vor allem erwachsene Menschen, die eine Leere in ihrem Leben verspüren, sprechen ihn an, bitten um Rat. Menschen, denen Wohlstand und Konsum nicht ausreichen. „Bei der gemeinsamen Bibellektüre werden dann manche fündig, etwa bei der Geschichte vom Verlorenen Sohn“, erzählt Irmer. So konnte er den 18jährigen Gymnasiasten Tomaš Turek für den Glauben gewinnen, nachdem dessen Vater, selbst eher „Weihnachtskatholik“, ihn zum Gottesdienst mitbrachte. Tomaš wurde neugierig, sprach Irmer an, besuchte ein Jahr lang bei ihm den Katecheseunterricht und fragte den deutschen Pfarrer schließlich, ob er ihn taufen könne. „Wasser haben wir genug!“, scherzte der - und freute sich über das neue Gemeindemitglied.
Zuweilen verläuft der Weg zum Glauben auch dramatisch. Wie bei einem jungen Mann, der unter Depressionen litt. Seine Eltern hatten sich getrennt, beide Elternteile einen neuen Partner gefunden; der Junge verlor jeden Halt, stürzte sich aus dem Fenster seiner Schule, um sein Leben zu beenden. Schwer verletzt besuchte er wenig später, ermutigt von seiner Großmutter, erstmals die Kirche, kam mit Irmer ins Gespräch und fand über ihn seinen Weg zum Glauben. Er ließ sich taufen, ministrierte sogar im Gottesdienst. „Ein Happy End hat diese Geschichte allerdings nicht“, erzählt Irmer nachdenklich. Eine aufgrund seiner Verletzungen nötig gewordene OP überlebte der Junge nicht.
Dass der Geistliche meist nur vor einer kleinen Schar predigt, spornt ihn an. „Von 0 auf 35“, beziffert er mit fast trotzigem Gesichtsausdruck seine Zwischenbilanz in den 18 Jahren seines Wirkens, bevor er sich den Ornat für den Wallfahrtsgottesdienst überwirft. Auch wenn sich zur wöchentlichen Wallfahrt an einem Augustsonntag im Coronajahr 2021 nur ein knappes Dutzend Gläubige versammelt haben, wohnt der Prozession entlang des Kreuzganges eine besondere Kraft inne. Die Sonne strahlt auf die Gläubigen herab, das Brummen der Bagger ist für einen Moment verklungen, und im Hintergrund, über den Mauern des Kirchhofs gerade noch erkennbar, ragen die Silhouetten des Erzgebirges.
Pfarrer Irmers Idee von Glaubensvermittlung
„In meinem Priestersein will ich den Durst der Menschen spüren und ihnen das Wasser des Glaubens zu reichen. Bei vielen ist die Quelle versandet oder zugedeckt, die Sehnsucht aber bleibt. Ich hoffe in meiner Tätigkeit als Pfarrer von Mariánské Radčice Menschen für Gottes Reich zu gewinnen und ihnen zu helfen, damit sie spüren, dass Gott da ist und Grund ihres Lebens ist.“