Der Eingang zum Kinderbetreuungszentrum „Little Prince" im armenischen Gjumri
Der Eingang zum Kinderbetreuungszentrum „Little Prince" im armenischen Gjumri
Quelle: Ira Peter/Caritas Armenien
Armenien

Ein paar Stunden ohne Sorgen

Seit dem Bergkarabach-Krieg und der Flucht der armenischen Bevölkerung aus dem Gebiet Bergkarabach sind die Familien in dem südkaukasischen Land mehr denn je auf Unterstützung angewiesen. Das Kinderbetreuungszentrum „Little Prince“ im armenischen Gjumri ist eine beliebte Anlaufstelle.

Eine Reportage aus Armenien von Ira Peter

Verlockender Essensgeruch zieht durch die Räume, als Hasmik Sargsyan das Little-Prince-Zentrum betritt, eine Einrichtung für Kinder in der Stadt Gjumri im armenischen Norden. „Die Kinder kommen in der Regel direkt nach der Schule zu uns“, sagt sie und öffnet die Tür zum Essensraum. Mehrere Dutzend Kinder stehen gerade zusammen, um gemeinsam zu beten. Danach Löffelgeklapper, Gespräche, Lachen. „Für viele ist es die erste Mahlzeit des Tages“, so Sargsyan. Sie koordiniert die fünf Little-Prince-Zentren der armenischen Caritas.

86 Kinder und deren Familienangehörige betreut sie mit insgesamt 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei „Little Prince“ in Gjumri. Die zweitgrößte Stadt Armeniens hat etwa 120.000 Einwohner und liegt in der dünn besiedelten Region Schirak. Im Norden grenzt der wirtschaftlich ähnlich schwache Süden Georgiens an. Im Westen verläuft die geschlossene Grenze zur Türkei.

1988 erschütterte Gjumri ein schweres Erdbeben, 25.000 Menschen starben. Noch immer zeichnen Ruinen das Stadtbild. Über tausend Menschen leben am Stadtrand in Containern, die damals als Notunterkünfte errichtet worden waren. Die Arbeitslosenquote liegt landesweit bei rund 15 Prozent, hier ist sie deutlich höher. Kinderarmut ist weit verbreitet, oft erziehen Mütter ihre Kinder allein, weil die Väter in Russland arbeiten. Einen Platz bei „Little Prince“ zu ergattern, gilt deshalb als Privileg. Nicht allein wegen des Essens, das die 10- bis 18-Jährigen hier von Montag bis Freitag kostenfrei bekommen, sondern vor allem, weil „Little Prince“ für viele ein zweites Zuhause geworden ist, wo sie Pause haben von den Sorgen der Mütter, manche auch von Gewalt in dieser angespannten Lage.

Eine Gruppe von Kindern mit ihrem Tanzlehrer Hovsep
Die meisten der Kinder und Eltern, die in die Zentren kommen, brauchen psychologische Betreuung, die sie in Einzel- und Gruppengesprächen erhalten. Das Leben in Armut, die oft jahrelange Abwesenheit des Vaters, die mangelnden Ausbildung- sund Arbeitsmöglichkeiten belasten die Kinder und Jugendlichen sehr. Bei „Little Prince“ werden auch Kinder mit Behinderung betreut - in Armenien keine Selbstverständlichkeit
Quelle: Ira Peter/Caritas Armenien
Ein kleiner Junge mit Kursleiterin Swetlana beim Weben eines kleinen Teppichs.
Sascha und die anderen Kinder dürfen alle ihre selbst angefertigten Arbeiten wie Teppich oder Kleidung mit nach Hause nehmen. Die Konfession der Kinder spielt in den Little-Prince-Zentren der armenischen Caritas keine Rolle. In Armenien ist nur ein sehr kleiner Anteil der Bevölkerung katholisch, mehr als 90 Prozent der Einwohner gehören der Armenischen Apostolischen Kirche an.
Quelle: Ira Peter/Caritas Armenien

Kinder mit Behinderungen werden nicht ausgeschlossen

Die wohlige Atmosphäre ist bei „Little Prince“ überall zu spüren, als Hasmik Sargsyan nach dem Essen von Raum zu Raum führt. Im ersten Zimmer spannt gerade der 13-jährige Sascha die Wolle für einen kleinen Teppich in eine Vorrichtung. Kursleiterin Swetlana sagt stolz: „Er kann sogar die Nähmaschine bedienen.“ Sascha kommt seit zwei Jahren zu „Little Prince“ und wählt ebenso wie die anderen Kinder alle drei Monate neue Kurse. Besonders gefällt ihm der Designkurs, der im Nebenraum stattfindet. Kursleiterin Gohar erklärt gerade die heutige Aufgabe. Schüchtern sagt die 18-Jährige, dass sie den Kurs seit 2018 leitet. Sargsyan legt den Arm um ihre Schulter und ergänzt, dass Gohar früher selbst Betreuungskind war und heute an der Universität Design studiert.

Auch weitere Kursleiter wurden hier vor Jahren noch selbst betreut – wie beispielsweise Hovsep. Er bringt gerade im Erdgeschoss Kindern einen traditionellen armenischen Tanz bei, darunter ist ein Mädchen mit Down-Syndrom. Dass Kinder mit Behinderungen an Kursen wie diesem teilnehmen können, ist in Armenien keine Selbstverständlichkeit. Oft lastet ein Stigma auf Familien, deren Kinder Behinderungen haben: Die „Schuld“ tragen die Frauen oder eine Strafe Gottes wird vermutet und die Kinder werden versteckt, meist fehlen aber ganz weltliche Voraussetzungen: Öffentliche Verkehrsmittel und Gebäude sind in Armenien selten barrierefrei, inklusive Angebote gibt es kaum. „Little Prince“ ist da eine Ausnahme.

Ebenso besonders an diesem Zentrum ist die berufliche Förderung. Hasmik Sargsyan zeigt einen Raum, in dem Jugendliche gerade Programmieraufgaben an Computern lösen. IT sei ein Sektor in Armenien, in dem Fachleute stark gefragt seien, so Sargsyan. Der Kurs sei deshalb sehr begehrt. Doch auch zwischenmenschliche Fähigkeiten will ihr Team vermitteln: „Die Kinder sollen lernen, respektvoll miteinander umzugehen.“

Mehr als 100 000 Geflüchtete aus Bergkarabach

Sozialarbeiterin Fenia Galstyan betreut im Little-Prince-Zentrum in Gjumri vor allem Familien aus Bergkarabach. Mehr als 100.000 Menschen flüchteten seit Ende September 2023 aus der armenischen Enklave, nachdem Aserbaidschan sie in einem kurzen Krieg für sich gewonnen hatte. Viele von ihnen kamen nach Gjumri, so wie die Familie von Maral Aghaganyan, die Fenia Galstyan beim Einleben in ihr neues Zuhause begleitet. „Meine Töchter können es jedes Mal kaum abwarten, bis sie zu ‚Little Prince‘ können“, sagt Maral. Hier haben sie schnell Freunde gefunden.

Bald werde die Älteste der vier Kinder bei „Little Prince“ auch psychologisch betreut. Sie ist zehn Jahre alt und hat bereits drei Kriege in Bergkarabach miterlebt. Bei jedem Flugzeuggeräusch zuckt das Mädchen zusammen, deshalb ist ihre Mutter froh, dass Fenia rund um die Uhr für sie erreichbar ist. Was sie und ihre Kinder sich für die Zukunft wünschen? „Frieden“, sagt sie. Auch wenn ihr Frieden mit dem Nachbarland Aserbaidschan unmöglich erscheint, bei „Little Prince“ bekommt sie zumindest Hoffnung: „Hier herrscht Liebe.“

Zwei Mädchen mit Sozialarbeiterin Fenia beim spielen.
Die beiden Mädchen Arusyak und Ella sind an zwei Tagen der Woche von 14.30 Uhr bis abends in der Kinder-Nachmittagsbetreuung, in der sie bereits viele Freunde gefunden haben. Unterstützt werden sie von Sozialarbeiterin Fenia Galstyan (Mitte).
Quelle: Ira Peter/Caritas Armenien
Eine Gruppe von Kindern beim Malen und Basteln mit ihrer Kursleiterin Gohar
In den Little-Prince-Zentren bekommen Kinder zwischen zehn und 18 Jahren täglich eine warme Mahlzeit und lernen in Kursen beispielsweise Programmieren, Nähen oder Haareschneiden. Es gibt auch Theater- und Zeichenworkshops sowie ein Sportangebot aus Tischtennis, Fußball und Basketball.
Quelle: Ira Peter/Caritas Armenien

Worum geht es beim Konflikt um Bergkarabach?

Im südkaukasischen Bergkarabach kann seit Jahrzehnten keine Lösung gefunden werden für zwei Grundprinzipien des Völkerrechts, die sich in der Region gegenüberstehen: das Selbstbestimmungsrecht der Armenier, die dort in der Mehrheit lebten, und die territoriale Unversehrtheit Aserbaidschans, zu dem Bergkarabach seit der Sowjetzeit als autonome Region gehört hat. In mehreren Kriegen starben zehntausende Armenier und Aserbaidschaner, durch beidseitige Vertreibungen verloren hunderttausende von Menschen ihre Heimat. 2020 eroberte der autoritär regierte Ölstaat Aserbaidschan Teile von Bergkarabach zurück, die Armenien im Krieg Anfang der 1990er Jahre besetzt hatte. Im September 2023 griff Aserbaidschan den De- Facto-Staat „Arzach“ in Bergkarabach trotz Friedensgarantien durch die in der Region stationierten russischen Soldaten erneut an. Nahezu alle der dort lebenden 100.000 Menschen flüchteten daraufhin, die meisten nach Armenien und etwa zehn Prozent nach Russland.

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Inhalt erstellt: 28.02.2024, zuletzt geändert: 17.04.2024

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