Eine Familie sitzt gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Marya Mitreva auf dem Sofa in einer Siedlung in Sofia.
Marya Mitreva (Mitte), Sozialarbeiterin bei Concordia in Sofia, besucht Ivanka (links) und ihre Familie - ein kleiner Lichtblick und ein bisschen Hoffnung für Menschen, die es schwer haben im Leben.
Quelle: Achim Pohl
Der Kampf um ein würdevolles Leben

Von der Straße auf die Schulbank

Mitten in Europa gibt es Länder, in denen Menschen um ihre Grundrechte kämpfen müssen. Ihr Staat hilft wenig, gießt oft sogar noch Öl ins Feuer. Ira Peter (Text) und Achim Pohl (Fotos) berichten aus dem Kosovo und aus Bulgarien.

Mitten in Europa gibt es Länder, in denen Menschen um ihre Grundrechte kämpfen müssen. Ihr Staat hilft wenig, gießt oft sogar noch Öl ins Feuer. Dass die Menschen im Kosovo und in Bulgarien Hoffnung auf ein Leben in Würde schöpfen, ermöglichen örtliche Organisationen wie der „Concordia e.V." Renovabis unterstützt diese Arbeit vor Ort.

Eine Reportage von Ira Peter (Text) und Achim Pohl (Fotos)

Es riecht nach verbranntem Holz vor dem „Ali Ibra“ Concordia-Tageszentrum in Gjakova, einer Stadt im Kosovo, die im Krieg 1999 fast vollständig zerstört wurde. Ein paar Männer lehnen an dem Metallzaun, der das einstöckige Gebäude mit seinem gepflegten Rasen gegen ein Meer aus Plastikmüll, kaputten Möbeln und zerschlissenen Autoreifen schützt. Zwei Mädchen laufen vorbei. Sie tragen keine Schuhe, obwohl kalter Herbstregen die löchrigen Straßen der Siedlung in kleine Seen verwandelt hat. Etwa 200 Familien leben hier, die meisten sind Roma, Aschkali oder Balkan-Ägypter. Bis vor ein paar Monaten wusste die Stadtverwaltung wenig über sie. Erst die von Renovabis unterstützte Hilfsorganisation Concordia gab den Menschen Namen.

Edona Lipoveci, die Leiterin des Zentrums, und ihre Kollegen waren von Haus zu Haus gelaufen, hatten die Namen der Bewohner notiert, dazu das Alter, das Geschlecht und vor allem die Anzahl der schulpflichtigen Kinder. „Die Stadtverwaltung war verblüfft, dass es 500 Mädchen und Jungen sind“, sagt Edona. Kaum eins der Kinder hatte je eine Schule von innen gesehen. Dabei herrscht in Kosovo Schulpflicht. Daraufhin schickte die Stadt zwei Lehrkräfte, die die Schülerinnen und Schüler nun bei den Hausaufgaben im Concordia-Tageszentrum unterstützen. Außerdem bekommen hier rund 100 Kinder warmes Essen und bei Bedarf Sprach- und Psychotherapie. Edona und ihr Team sind nach einem Dreivierteljahr noch immer dabei, Geburtsurkunden für die Familien zu besorgen, Kinder impfen zu lassen und sie in Schulen anzumelden.

Kinder im Ali-Ibra-Zentrum in Gjakova

Lesen und schreiben lernen in Gjakova

Concordia ist die erste Organisation in Gjakova, die Bildungsziele mit sozialer Arbeit verbindet. Regelmäßig besuchen die Mitarbeitenden deshalb Menschen auch zu Hause. Heute schaut Psychologin Blerta Koca bei Esma vorbei. Die Romnja ist 38, wirkt aber wie 50. Vor ihrem Haus kocht in einer kleinen Blechtonne gerade Wasser über brennenden Ästen. Esma will Kleidung waschen - und Strom können sie sich nicht leisten. Ihr Mann geht betteln, sie und die acht Kinder haben das früher auch gemacht. „Jetzt sollen sie besser zur Schule gehen“, sagt Esma. Auch sie lerne jetzt lesen und schreiben, erzählt sie. Schüchtern schaut ihre 16-jährige Schwiegertochter aus dem Nebenzimmer, auf dem Arm ihr Neugeborenes. Wie es der Brauch will, ist sie zur Familie ihres Mannes gezogen.

Oft leben bis zu 20 Menschen in den winzigen Häusern, welche die Caritas vor einigen Jahren bauen ließ. Blerta hofft, dass eine bessere Bildung in der Siedlung bald dazu führen wird, dass Menschen später heiraten und sich nachhaltiger auf Erwerbsarbeit einlassen. Das zeige zumindest die Arbeit in Prizren, einer anderen kosovarischen Stadt, wo Concordia bereits seit vier Jahren tätig ist. Manche Kinder studieren heute bereits und vielen Eltern verdienen ihr Geld in festen Anstellungen.

Blerta sagt: „Wir betrachten die Menschen als eigenständige Persönlichkeiten, die unsere Starthilfe brauchen.“ Trotzdem fühle sie sich oft schuldig: „400 der Kinder hier können wir nicht unterstützen.“ Es fehle Raum und Personal.

Zurück am Zentrum, spricht Edona gerade mit einem der Männer am Zaun. Bei der Eröffnung des Zentrums im Juni 2024 hatte er Flaschen gegen das Gebäude geworfen. „Er dachte, wir sind eine Organisation, die schnell wieder verschwindet.“ Jetzt habe er gemerkt, dass Concordia seine Versprechen hält – und sich entschuldigt.

Das Gebäude des Ali-Ibra-Zentrums in Gjakova
Das Ali-Ibra-Zentrum in Gjakova
Quelle: Achim Pohl
Eine Gruppe von Frauen im Ali-Ibra-Zentrum in Gjakova
Wenn sich die Frauengruppe trifft, werden Wasserflaschen auch mal zweckentfremdet...
Quelle: Achim Pohl
Eine Betreuerin und drei Kinder während des Nachhilfe-Unterrichts
Lernen kann auch Spaß machen: Nachhilfe-Unterricht für Kinder, denen das Lernen bisher manchmal fremd war.
Quelle: Achim Pohl

Ein Roma-Viertel in Sofia

Ortswechsel nach Sofia, Bulgariens Hauptstadt. Zwei Drittel der in Armut lebenden Menschen hier gehören zur Roma-Gemeinschaft, obwohl sie nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie wohnen oft in ghettoartigen Vierteln.

Mit Marya Mitreva, Sozialarbeiterin bei Concordia, besuchen wir heute eines dieser Viertel. Nach einer kurzen Autofahrt laufen wir mit ihr eine schlammige Straße entlang, vorbei an improvisierten Hütten, um uns etliche Kinder, manche in schmutzigen Bademänteln, viele sehr dünn. Ein Mädchen isst trockene Instantnudeln aus einer Packung, ein ausgemergelter Hund folgt ihr. Vor einem Haus ist ein Schwein angebunden, ein Pferdewagen zieht vorbei.

Überall auf der Straße liegt Müll. Kaum zu glauben, dass man hier mitten in einer europäischen Hauptstadt ist. „Die Müllabfuhr kommt nicht hierher“, beantwortet Marya unseren ungläubigen Blick. Anschluss an die Kanalisation gebe es ebenfalls nicht, deshalb kommen einige Bewohnerinnen und Bewohner zum Duschen in eines der vier Sozialzentren von Concordia.

Erste Schritte in eine bessere Zukunft

Viele im Viertel haben bis 2023 in Häusern gelebt; die Stadt ließ sie aber abreißen, weil Baugenehmigungen fehlten. Seitdem seien Menschen wie Ivanka, mit der sich Marya gerade unterhält, ohne Adresse. Kürzlich habe sie ihr dabei geholfen, ihre Kinder im Kindergarten anzumelden. Das ginge nur online und ohne Adresse eigentlich gar nicht. Ivanka habe aber weder Strom noch ein Handy – und vor allem könne sie nicht lesen, sagt Marya. Auch der Zugang zu Sozialhilfe und öffentlicher Gesundheitsversorgung sei für Ivanka und ihre Kinder gekappt, seit sie offiziell keine Bürger mehr sind. Gegen dieses landesweite Problem setzt sich Concordia mit anderen NGOs in Bulgarien ein. „Unsere Behörden arbeiten aber langsam“, sagt Marya. Die politische Situation sei „dynamisch“, allein seit 2021 hat Bulgarien fünf Parlamentswahlen abgehalten. Konstant sei nur die jahrhundertelange Diskriminierung der Roma: Politiker jeglicher Parteien gingen mit antiziganistischen Aussagen auf Stimmenfang oder schürten Angst innerhalb der Community. Die Sozialarbeiterin: „Wir begleiten Menschen bei den ersten Schritten, damit sie die Angst vor dem Versagen verlieren.“ Und damit die Menschen Hoffnung haben auf ein selbstbestimmtes, würdevolles Leben innerhalb der Gesellschaft.

Ein Haus in der Roma-Siedlung in Malki Iskar, davor liegt sehr viel Müll
Die Roma-Siedlung in Malki Iskar
Quelle: Achim Pohl
Eine junge Frau mit ihrem kranken Kleinkind wird in der Krankensprechstunde im Concordia-Zentrum in Malki Iskar von einer Mitarbeiterin betreut.
Krankensprechstunde im Concordia-Zentrum
Quelle: Achim Pohl
Ein kleiner Junge bekommt Nachhilfeunterricht im Concordia-Zentrum in Malki Iskar
Nachhilfeunterricht in Malki Iskar
Quelle: Achim Pohl
Zwei junge Frauen laufen mit ihren Kleinkindern durch die Roma-Siedlung in Malki Iskar
Mütter mit ihren Kindern in der Roma-Siedlung in Sofia
Quelle: Achim Pohl
Inhalt erstellt: 04.02.2025, zuletzt geändert: 14.02.2025

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