Dr. Jörg Lüer ist Historiker und Geschäftsführer der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Er ist stellv. Vorsitzender der Maximilian-Kolbe-Stiftung und Mitglied u.a. im Stiftungsrat der Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung und im Kuratorium der Aktion Sühnezeichen. Von 2005 – 2008 war er Generalsekretär von Justitia et Pax Europa.
Mehr als zwei Jahre nachdem die Russische Föderation 2022 den Krieg gegen die Ukraine zu einem Großkrieg eskaliert hat, ist vielerorts in Deutschland eine beunruhigende Mischung aus Gewöhnung und Ermüdung anzutreffen. Im politischen Raum sind immer wieder Stimmen zu hören, die darauf drängen, mit dem Putin-Regime eine kriegsbeendende Verabredung zu treffen. Die Sehnsucht nach Frieden und die Rat- und Hilflosigkeit angesichts der andauernden Gewalt sind nur zu verständlich. Wer wünschte sich nicht, dass endlich Frieden herrsche. Doch unser Unbehagen und unsere Friedenssehnsucht allein, die allzu schnell auf ein „Seine-liebe-Ruhe-haben-wollen“ hinausläuft, sind keine ausreichenden Ratgeber in einer solchen Zeit der Krise.
Eine der zentralen Versuchungen in der jetzigen Situation ist es, das eigene Unbehagen, das sich durchaus aus echten Quellen nährt, wichtiger zu nehmen als die massenhaften Leiden der Menschen in der Ukraine. An ihrem Leiden, ihrem Ringen und ihrem Einsatz für eine freiheitliche Gesellschaft gilt es Maß zu nehmen. Sicherlich sind die Auswirkungen des Krieges auf unsere Gesellschaft ebenfalls nicht zu unterschätzen. Wie wir auf diese Herausforderungen antworten, hat aber wesentlich damit zu tun, welches Verständnis wir von den Gründen des Krieges gegen die Ukraine entwickeln.
Dieser Krieg basiert nicht auf einem Missverständnis, das sich mit verbesserter Kommunikation hätte ausräumen lassen. Das Putin-Regime hat sich von langer Hand vorbereitet und bewusst für diesen Weg der verbrecherischen Gewalt entschieden, bei dem es letztlich um weit mehr als die Ukraine geht. Es geht vielmehr um die Frage, ob wir zukünftig in Europa in einem Raum leben, in dem das zynische Recht des Stärkeren gilt oder ob es gelingt, das europäische Projekt außen wie innen zu verteidigen. Ja, das Putin-Regime wurde durch die Entwicklungen in der Ukraine bedroht. Denn die beachtlichen Fortschritte in der Ukraine auf dem Weg zu einer freiheitlichen Demokratie waren und sind eine große Hoffnung für die demokratischen Kräfte in Russland und stellen das autokratische Regime in Moskau fundamental in Frage. Der „Putinismus“ weiß auf diese Herausforderung keine andere Antwort als Gewalt und Lüge. Die Opfer sind immens. In der jetzigen Situation gilt es, der Gewalt entgegenzutreten und das Kalkül, dass Europa sich bald, der Bilder müde, abwendet, nicht aufgehen zu lassen.
Unser Platz ist an der Seite derjenigen, die der Gewalt Einhalt gebieten und Recht wiederherstellen wollen. Dabei sollten wir aber zugleich auch nicht der gegenläufigen Versuchung erliegen, uns zunehmend schulterzuckend an die Gewalt zu gewöhnen. Das Gewalthandeln darf den Horizont unseres Denkens ebenso wenig bestimmen wie wir die konkrete Gewalt übergehen dürfen. Es darf keine Gewöhnung geben. Gefordert ist vielmehr, standzuhalten und im Krieg den Frieden vorzubereiten. Das kann sehr verschiedene Formen annehmen. Die Arbeit mit Geflüchteten aus der Ukraine ist Friedensarbeit. Wir wissen aus der Traumaforschung, dass die Art der Aufnahme der Geflüchteten einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie diese mit ihren Erlebnissen umgehen können. Auf absehbare Zeit werden es die Menschen in der Ukraine als Zumutung empfinden müssen, wenn ihnen Ratschläge zur Versöhnung erteilt werden. Das ist nachvollziehbar, denn diese vorschnelle und romantisierende Rede zeugt in der Regel eher von der Unfähigkeit der Sprechenden, die tiefgehende und irritierende Spannung empathisch auszuhalten. Sie wird als mangelnder Respekt vor den Leiden der Menschen erlebt.
Bevor sinnvoll von Versöhnung gesprochen werden kann, müssen die Verletzungen in den Blick kommen und es muss eine Beziehung hergestellt werden, in der auf der Seite der Verletzten Sicherheit über die praktischrelevante Empathie der Anderen besteht. Unterschätzen wir nicht die latent wütende Unsicherheit unserer ukrainischen Partner, ob sie denn wirklich auf uns zählen können. Jetzt von Versöhnung zu sprechen, hieße, diese wichtige Perspektive auf lange Sicht zu beschädigen. Um irgendeinen Weg zum Frieden sichtbar werden zu lassen, gilt es, wahrhaftig mit den Verbrechen umzugehen. Diese kriminellen Gewalttaten dokumentieren zu helfen und den Angegriffenen beizustehen, sollten wir auch als unsere Aufgabe verstehen. Gleichzeitig dürfen wir unsere Partner in Russland, die derzeit wohl durch eine „Katakombenphase“ gehen müssen, nicht alleine lassen. Bereiten wir aktiv und geduldig die Zeit vor, in der wir gemeinsam neue Schritte gehen können.