Die Republik Moldau zählt zu den ärmsten Ländern Europas. Die Menschen dort suchen nach Chancen im Ausland – eine Herausforderung, mit der auch die katholische Kirche umgehen muss. Das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis fördert und unterstützt seit vielen Jahren Projekte seiner Partner in der Republik Moldau. Markus Nowak (Text und Fotos) hat das Land besucht und mit den Menschen vor Ort gesprochen – über ihre Sorgen und Nöte angesichts der hohen Arbeitsmigration, aber auch über ihre Hoffnungen.
Die Schotterstraße führt von der Hauptstraße aus Chișinău kommend an Weizen- und Maisfeldern vorbei. Rechts weidet eine Schafherde. Irgendwann sind die ersten Häuser sichtbar. Petropavlovca ist wie viele Dörfer in der Republik Moldau zersiedelt, von Büros oder Industrie keine Spur. Mitten auf dem Schotterweg schiebt Svetlana Nika ihren Kinderwagen. Die 25-Jährige ist auf dem Weg zum „Traumhaus“, um ihre beiden Töchter abzuholen.
Das „Traumhaus“ ist eine Kinderbetreuungseinrichtung der Caritas. Seit die Kleinen in den Kindergarten gehen und hinterher im „Traumhaus“ betreut werden, hat die zweifache Mutter endlich Zeit. Nicht für sich, aber für die Hausarbeit: neben Kochen und Wäschewaschen auch Holzhacken und Heizen. Denn während ihr Mann Ivan in Deutschland Geld verdient, muss sie auch die körperlichen Arbeiten rund um Haus und Garten übernehmen. „Es ist schwer, wir vermissen Ivan sehr“, sagt Svetlana. Ivan ist sieben Jahre älter als sie, seit drei Jahren arbeitet er für deutsche Firmen auf dem Bau: Sechs Monate am Stück lebt er in Deutschland, dann kommt er für mehrere Wochen nach Hause zu seiner jungen Familie.
„Er konnte keinen Job in der Nähe finden“, erzählt Svetlana. „Wir müssen für Essen, Wohnen und den Kindergarten zahlen. Geld, das wir nicht zusammenbekommen. Also ist er ins Ausland gegangen“, sagt sie. Im „Traumhaus“ angekommen nimmt sie im Hausaufgabenraum einen Globus in die Hand und deutet auf Deutschland. „Da ist Papa gerade“, sagt sie zu ihren Töchtern - und berichtet, dass die beiden oft weinen, weil ihr Vater nicht zuhause ist.
Auf Jobsuche ins Ausland
Geschichten wie diese hört Elena Zubati immer wieder. Arbeitsmigration betreffe fast alle Familien in Petropavlovca, sagt die 33-jährige Leiterin des „Traumhauses“. „In jeder Familie ist Vater oder Mutter zumindest einmal im Ausland gewesen – oder ist es weiterhin.“ Wenn der Vater im Ausland Geld verdiene, müsse die Mutter seine Rolle mit übernehmen und sei dann häufig müde und gestresst. Das Phänomen Arbeitsmigration durchziehe alle Generationen, berichtet Elena Zubati. „Die Mütter haben kaum Zeit, sich um die Kinder zu kümmern.“ Hier unterstützt das „Traumhaus“ mit seiner Nachmittagsbetreuung – jeden Tag kommen 20 bis 30 Kinder aus der Umgebung.
„Die Kinder im Dorf müssen oft physische Arbeit leisten, um den Eltern zu helfen“, erzählt Elena Zubati. Viele haben nur wenige Möglichkeiten, ihre Freizeit selbst zu gestalten. Das „Traumhaus“ mit seinen Angeboten hilft – angefangen von gemeinsamen Spielen über Holzarbeiten bis hin zu einer Hausaufgabenbetreuung. Damit sollen die aus der Arbeitsmigration der Eltern entstandenen Defizite abgemildert werden.
Arbeitsmigration mit all ihren Auswirkungen sei eine große Herausforderung für das Land und die Gesellschaft, berichtet auch der Journalist Simion Ciochină. Häufig bleiben die Kinder zurück, während die Eltern im Ausland arbeiten – und nicht selten seien psychische Probleme die Folge. „Es gibt zu wenige Arbeitsplätze in der Republik Moldau, weil wir kaum Industrie haben“, sagt der Mittvierziger. „Und selbst wenn die Menschen Arbeit haben, verdienen sie nicht viel und die Preise sind sehr hoch.“
Schrumpfende Gesellschaft
Noch in den 1990er Jahren war Russland Ziel der meisten Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, mittlerweile sind die Länder Westeuropas attraktiver. Auf den ersten Blick profitiert die Wirtschaft der Republik Moldau sogar von der Arbeitsmigration, denn es gibt einen hohen Rückfluss an Kapital, das die Menschen in der EU erwirtschaften. „Wir brauchen das Geld“, sagt Politikwissenschaftler Eduard Ardeleanu. Die Republik Moldau zählt zu den ärmsten Ländern Europas. Dem Human Development Index der Vereinten Nationen zufolge liegt das Land auf Platz 80 von 191 aufgelisteten Ländern weltweit. Bei den Ländern mit dem größten Anteil an Überweisungen aus dem Ausland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), liegt es hingegen weit vorne.
Zugleich gehen die Euros oder die moldauischen Leu vor allem in den privaten Konsum, glaubt Ardeleanu, der für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) arbeitet. Die Menschen kaufen etwa Autos. Die Regierung schafft daher auch Anreize, wenn das im Ausland erwirtschaftete Einkommen in eigene Geschäftsideen investiert wird – die wiederum Arbeitsplätze schaffen.
„Das Schrumpfen unserer Bevölkerung ist ein Fakt und wird sich verstärken“, sagt Ardeleanu. Nach dem Ende der Sowjetunion hatte das Land noch eine Bevölkerung von fast 4,5 Millionen Menschen, heute sind es je nach Statistik weniger als 2,5 Millionen - und jedes Jahr geht die Bevölkerungszahl um fast zwei Prozent zurück. Grund dafür seien vor allem die Arbeitsmigration und die Abwanderung im Allgemeinen. Daraus ergebe sich ein weiteres Problem für das Land, berichtet Journalist Ciochină: „Uns fehlen die Profis, also Fachleute.“
Fachkräftemangel als Folge der Migration
Eine Beobachtung, die auch die Caritas macht. Direktor Edward Lucaci sitzt in seinem Büro in der Hauptstadt Chișinău. An der Wand hängt eine Karte des Landes, versehen mit einzelnen Pins, darunter auch das „Traumhaus“ in Petropavlovca. Die Pins zeigen, wo sich überall die Projekte der Caritas befinden. Edward Lucaci berichtet, dass die Caritas Probleme habe, ihre offenen Stellen zu besetzen. So sei es eine enorme Herausforderung gewesen, als im Zuge des russischen Angriffskrieges auf Moldaus Nachbarstaat Ukraine die Caritas von hundert auf rund zweihundert Mitarbeiter angewachsen ist. „Als kleine Kirche mit 20.000 Gläubigen schaffen wir gar nicht so wenige Arbeitsplätze“, sagt Edward Lucaci. Die Kirche versucht, den Menschen auf unterschiedliche Weise Möglichkeiten zu öffnen, damit sie im Land bleiben können – etwa durch Ausbildungsprojekte wie das Salesianerzentrum am Stadtrand von Chișinău.
Dort hängt das Kreuz über der Tafel, ein Bild von Don Bosco gleich daneben. Im Klassenzimmer steht Salesianerbruder Corrado vor einer Handvoll Jungs und erklärt, wie es zur Fusion von Werkstücken unter der Verwendung von Wärme kommt: Schweißunterricht. Die Teenager sind Berufsschüler, und weil die Salesianer eine gut ausgestattete Werkstatt haben, kooperieren staatliche Schulen mit dem Orden - etwa bei der Schweißer-Ausbildung.
Unter den Schülern ist der 18-jährige Lilian. „Nach der Ausbildung will ich ins Ausland gehen“, sagt er. Seine Mutter arbeitet schon in Israel, er wohnt bei seiner Tante. „Hier ist alles so teuer und wir brauchen Geld.“ Dann setzt er den Schweißkolben an ein Metallteil an, die Funken sprühen. Sein Lehrer Nikolai steht daneben und sagt, natürlich freue er sich nicht, wenn all seine Schüler nach der Ausbildung im Ausland nach Jobs suchen. „Wir bilden sie aus und dann gehen sie weg. Bloß: Was sollen wir sonst machen?“ Der 32-Jährige hofft, dass seine Jungs dank der guten Ausbildung eine besser bezahlte Stelle finden und vielleicht nach Hause zurückkehren. Auch er selbst hat zehn Jahre lang in Russland und Rumänien gearbeitet. Dann kam der Entschluss, es wieder in der Republik Moldau zu probieren. Jetzt kann er als Berufsschullehrer seine Erfahrung weitergeben. Vielleicht auch an jene Leute, die irgendwann wieder zurückkommen.