Dieser Text ist dem Rundbrief von Sr. Christina entnommen. Wir freuen uns, ihn mit ihrer Erlaubnis hier zu veröffentlichen.
Ich weiß gar nicht, ob ich es zu Euch rüberbringen kann, was wir erlebten, aber ich möchte es irgendwie vermitteln. Also: Vom Parkplatz zum Friedhof war alles Volk unterwegs – die Erwachsenen schwarz und dunkel gekleidet, die Kids aufgeputzt, dazwischen die „Fukara“ (die Elenden), die man sofort erkennen konnte an der miserablen Kleidung, die Romakids teilweise noch barfuß. Aber jene „Fukara“, die aus dem Friedhof kamen, hatten alle Tüten mit Essen dabei. An der Straße machten die Topfblumenhändler und die Grablichterverkäufer das Geschäft des Jahres. Der Friedhofseingang glich dem Eingang des Oktoberfestes mit Raki-Gestank, Lärm, Gedränge, Zigarettenrauch und auch mal ein lautes hitziges Wortgefecht im Gedränge. Ein Mädchen brüllte nach ihrer Mama.
Wir steckten in der schwarzen Menge, jemand rief: „Die Moter Christina, lasst sie rein.“ Ich hielt Luise, unsere Praktikantin, fest an der Hand.
Dann waren wir am Ort der Seelen, im Friedhof.
Ein Meer von tausenden von Grablichtern flackerte. Es schien mir, als wollten auf jedem Grab die vielen Lichter und auch die kleinen Feuerchen den Seelen den Weg in die Ewigkeit leuchten. An den Gräbern waren die Angehörigen versammelt, einige standen stumm und ehrfurchtsvoll geneigt und schienen in der Erinnerung zu versinken und zu erstarren. Andere unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und dann sahen wir eine Sippe, wie sie auf der Grabplatte ihre Plastiktüten auspackte. Luise und ich blieben in gebührendem Abstand stehen und ich murmelte ein Gebet für diese Verstorbenen. Die Sippe fiel in eine fromme ritualisierte Handlung: der wohl älteste Mann baute die Grablichter auf und zündete sie an, danach sich auch eine Zigarette. Die Frau richtete sorgfältig die am Straßenrand erstandenen Winterastern und dann verteilten sie die Speisen für die Seelen auf die Grabplatte: Kaki, Äpfel, Nüsse und zwei Gläser mit Raki zum Anstossen auf die ewige Seligkeit. Und dann wurde von allen mit leichten Verbeugungen im Schatten der Dunkelheit gemurmelt: Gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen…, immer wieder, als müssten sie das Paradies für die Verstorbenen in dieser Stunde erbeten.
Wir gingen weiter, bzw. schlichen uns durch die engen Grabwege, die voller tückischer Löcher waren. Etliche Gräber waren schon verwaist, da die Angehörigen früher waren als wir. Da fanden wir dann verbliebene Schokoriegel, der absolute Luxus für die Seele, immer wieder Rakiflaschen, Fruchtsaft, Obst, Nüsse, einmal einen Kuchen. Und die tausend Lichter und Blumen. Alles hat da Platz. Die prächtigsten Grabmäler hatten teilweise bis zu 15 Grablichter brennen, waren mit Kränzen bedeckt und das Seelenmahl war auf der Grabpatte bereitet, mit Zigaretten und Raki. Ein angebissener Apfel ließ mich laut Luise fragen, ob da wohl halt doch eine Seele da war….
In einer abgelegenen Ecke des Friedhofs tauchten plötzlich drei Kinder auf, nicht älter als 10 Jahre.
Flink und geduckt im Schatten der Nacht bewegten sie sich zwischen den Gräbern und ich sah, dass sie Taschen hatten. Ich rief sie und sie wollten weglaufen. Da hörten wir, wie das Mädchen zu den Jungs rief: „Das ist Moter Christina“ und schon standen die Drei vor uns.
Ich sagte: „Passt auf. Ihr wisst ja, dass ich keine Albanerin bin und eure Tradition nicht kenne. Was macht ihr da? Sagt ihr mir das?“ Da kam das Mädchen, das mich kannte (ich sie aber nicht) näher und sagte: „Moter Christina, heute ist die Nacht der Seelen. Die bekommen alle heute etwas zum Essen auf das Grab. Das siehst du ja“. Ich nickte mehr oder weniger verständig. Dann kam sie noch näher und flüsterte geheimnisvoll: „Moter, aber weißt Du, die Seelen, die können gar nicht mehr essen. Die können da nicht raus!“ Sie zeigte auf die Grabplatte, die sie eben abgeräumt hatten, als wolle sie sich versichern, dass da wirklich keiner rauskommt. Dann belehrte sie mich weiter: „Die Leute glauben, die da drin, die Seelen, die essen. Aber wir holen das Zeug“. Sie gluckerte mit den Augen und schwups waren sie weg. Ich sagte noch in die Nacht hinein und zwischen den Lichtern hindurch, wo sie verschwunden waren: „Na dann viel Glück!“ Und immer wieder sahen wir da und dort ein Kind rumhuschen. Und dann wurde ich zum Helfer und rief hinter einem Grabstein vor: „Du, da liegt noch ein Apfel“. Ich glaube, zuerst hatte die Kleine gemeint, ich wäre eine verstorbene Seele, so verschreckt war sie. Dann kam ein vorsichtiges: „Dankeschön“ und ich sah im Schein der Grablichter, welch schönes Gesichtchen die Kleine hat, aber auch, wie arm sie ist. Und in diesem Moment dachte ich, wie doch so eine Nacht für die Seelen auch eine Nacht für die „Fukara“, für die Elenden und Hungernden, geworden ist. „Ob Gott lacht?“, dachte ich….
Wir schlurften an einem Grab vorbei, als sich eine Frau aus dieser Gruppe am Grab löste und mich an sich heran zog. Sie sagte: „Dass du gekommen bist zu meinem Kol, dass du gekommen bist“. Ich erinnerte mich an ihr Gesicht und an ihren vor einem halben Jahr verstorbenen Mann Kol. Er war lange unser Patient, da er während eines epileptischen Anfalls in das offene Feuer gefallen und sehr, sehr schwer verbrannt war. Ich sagte ihr, dass ihr Mann sicher bei Gott sei und wir beteten miteinander. Sie war glücklich. Sie weinte ein wenig und ich fragte sie auch, für wen der Raki und die Äpfel sind und sie sagte: „Für seine Seele.“
Langsam wurde uns kalt. Ich hätte die ganze Nacht auf dem Friedhof verbringen können, das gebe ich zu. Da wurde mir wieder mal der Norden Albaniens so vor Augen geführt. Hier ist so alles möglich, sogar auf dem Friedhof. Da ist fast heidnischer Ahnenkult mit frommer katholischer Tradition ohne weiteres beisammen, da treffen sich die „Fukara“ und räumen die Grabplatten mit den gebrachten Speisen für die Seelen ab und feiern auf dem Friedhof ein Freudenfest. Da brennen Lichter und lassen den Glauben an das ewige Leben nicht erlöschen. Da ist der Tod nicht anonym und nicht aus dem Leben verbannt, ja da ist die Einfachheit und Unkompliziertheit des Lebens und des Sterbens und des Todes für mich so einfach und diskussionslos zu spüren. Es ist, wie es ist und Vergänglichkeit und Ewigkeit reichen sich hier auf fast witzige Weise die Hand, in dem man am Grab mit oder auf den Verstorbenen einen Raki trinkt und sagt: „Qofte levduar Jesu Christi: gelobt sei Jesus Christus.“
Dies ist für diese einfachen Bergler nicht ohne Achtung vor dem Herrgott vollzogen, sondern ehrenvoll und treu. Selbst der größte Schurke schleicht sich an diesem Abend noch verstohlen ans Grab der Sippe und spricht ein Gebet und legt wenigstens noch eine Walnuss auf das Grab und trinkt eben einen Raki. Und dann treffen wir noch unsere Nachbarn, die voll erfreut auf uns zukommen und Nikola sagt weise und mit frommer Miene: „Moter Christina, diese Nacht der Seelen ist eine große Nacht. Es ist gut, dass du hier bist“. Er klopft mir auf die Schulter.
Vielleicht habe ich heute Abend ein bisschen mehr von hier und den Menschen verstanden, so denke ich und gehe mit Luise ganz leicht nach Hause.
Mit liebem Segensgruss im November
Eure Sr. Christina
Zur Person
Schwester Maria Christina Färber
Sr. Christina ist eine langjährige Projektpartnerin von Renovabis. Seit 2000 ist sie Mitglied der Spirituellen Weggemeinschaft (gegründet 1998 im Bistum Chur/CH), seit 2004 arbeitet sie im Kloster und Sozialzentrum in Dobrac bei Shkodra, Albanien.